Die Oktoberrevolution 1917 in Rußland
Einige persönliche Gedanken zum 100. Jubiläum.
Heute, nachdem die realen Ergebnisse der russischen Oktoberrevolution zumindest in Europa umfassend und endgültig eliminiert scheinen, wo die allgegenwärtige Renaissance des Kapitalismus mit elementarer Gewalt erfolgreich und allem Anschein nach unumkehrbar vollzogen ist und sich die Linke europaweit theoretisch und praktisch in der historischen Defensive befindet, ist m. E. gerade unter progressiven Kräften Nachdenken über Sinn, Fehlentwicklungen, mögliche positiv konnotierte welthistorische Ergebnisse und vor allem über mögliche Lehren aus der Oktoberrevolution wichtiger denn je.
Immerhin herrscht ja in der (im öffentlichen Diskurs dominierenden) bürgerlichen Historiografie bis hinein in rechtssozialdemokratische Kreise Konsens darin, dass die Oktoberrevolution ein Irrweg der Geschichte, ja die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war.
Oktoberrevolution wird einseitig diskutiert
Auch in vielen Zirkeln der Linken werden an erster Stelle die Negativentwicklungen im Gefolge dieser Revolution thematisiert (Gewaltherrschaft, Demokratiedefizite u. a.) und ihr von daher progressive, emanzipatorische Zielstellungen überhaupt abgesprochen. Für einen solchen Ansatz lassen sich vor allem in den Perioden des „Kriegskommunismus“ und des Stalinschen Terrors in der Sowjetunion ohne Zweifel auch viele Belege bzw. Begründungen finden.
Andererseits erkennt z. B. der russische Präsident Wladimir Putin gerade im Untergang der Sowjetunion (als dem wohl wichtigsten Ergebnis der Oktoberrevolution) die Hauptkatastrophe des 20. Jahrhunderts und sieht sich dabei im Konsens mit einem großen (wahrscheinlich dem größten) Teil seiner Landsleute.
Wirkungen der Oktoberrevolution auf die Welt
Es erhebt sich also eine Vielzahl von Fragen, nicht zuletzt diejenige, ob und - wenn ja - wie die Oktoberrevolution auf die welthistorische Entwicklung insgesamt und vor allem auf die Entwicklung derjenigen Länder, die unmittelbar von ihr erfaßt waren, tatsächlich auch in einem positiven Sinne nachwirkt.
Eine so außerordentlich komplexe Fragestellung kann in einem kurzen Aufsatz naturgemäß nicht ansatzweise umfassend behandelt werden. Deshalb möchte ich mich auf einige wenige persönliche Gedanken und Überlegungen – ohne wissenschaftlichen Anspruch - beschränken, die sich vor allem auch auf umfangreiche eigene Erfahrungen im Umgang mit Bürgern und Einrichtungen der Sowjetunion und einiger ihrer Nachfolgestaaten stützen – vor und nach dem Ende der UdSSR.
Oktoberrevolution war eine Frage der Zeit
Zur Revolution selbst ist zunächst festzuhalten, dass von den Führern der Bolschewiki mit Lenin an der Spitze die Lage im Lande, vor allem die Stimmung der Massen, richtig eingeschätzt wurde: Allgemeine Kriegsmüdigkeit, Unzufriedenheit der Mehrheit des Volkes mit der Versorgungslage sowie des Großteils der Bauernschaft (in dem riesigen Agrarland die Mehrheit der Bevölkerung) mit den herrschenden Besitzverhältnissen am Boden und damit schreiender Ungerechtigkeit. Infolgedessen gab es bereits im Vorfeld der Oktoberrevolution vielfältige Massenproteste, die sich letztlich gegen das politische System in Rußland als dem Verursacher der geschilderten Zustände richteten. Folgerichtig wurden nach dem von Trotzki glänzend organisierten, nahezu unblutigen, Aufstand als erste „gesetzgeberische“ Schritte nach der Machtübernahme der Bolschewiki die Dekrete über den Frieden sowie über den Boden erlassen.
Von daher ist es wichtig, festzuhalten, dass nicht, wie in der bürgerlichen Geschichtsschreibung gern behauptet, der vom kaiserlich-deutschen Generalstab mit dem Ziel der Destabilisierung des Kriegsgegners Rußland organisierte Transport Lenins im verplombten Waggon aus der Schweiz über Deutschland nach Finnland (zu der Zeit Teil des Russischen Reiches) ursächlich für die Revolution war, sondern die allgemeine Lage im Land. Damit soll Lenins Rolle als präziser Analytiker der herangereiften revolutionären Situation in Rußland und sein maßgeblicher Beitrag als genialer Stratege und Taktiker zur Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution keinesfalls in Frage gestellt werden.
Sozialistische Revolution in der Praxis
Mit Sicherheit war es von vornherein ein Problem, dass die sozialistische Revolution nicht – wie von Marx intendiert – zuerst in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Ländern stattfand, sondern in einem vergleichsweise rückständigen Staat und am Ende eben nur in einem.
Um so bemerkenswerter ist es, dass diese Revolution sowie der folgende Bürgerkrieg und die Abwehr der ausländischen Interventionen in den Jahren 1918 – 1921 dennoch erfolgreich verliefen und einige weltgeschichtlich bedeutsame Ergebnisse zeitigten, zu denen zu zählen sind:
Erbringen des praktischen Beweises, dass eine egalitäre Gesellschaft grundsätzlich möglich ist.
Es konnte in der Praxis gezeigt werden, dass eine Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Verhälnisse, jenseits einer auf Ausbeutung einer Mehrheit der Bevölkerung beruhenden Ordnung, eine Gesellschaft von Gleichen unter Gleichen grundsätzlich möglich ist, auch wenn diese Zielstellung gerade in der Ära Stalin deformiert, ja in erschreckendem Maße – durch Herausbildung einer privilegierten Funktionärskaste - konterkariert wurde.
Die Gründung der Sowjetunion im Jahre 1922
Die Sowjetunion war eine weitgehend egalitäre Gesellschaft, ein multinationaler Staat, in dem ein grundsätzlich gleichberechtigtes Nebeneinander der Völker organisiert wurde. Diese prinzipielle Zielstellung der Leninschen Nationalitätenpolitik war gerade auch darauf gerichtet, den im Zarenreich besonders benachteiligten Territorien und Völkern im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten besondere Förderung und Unterstützung zuteil werden zu lassen, die eine zügige nachholende Entwicklung einschließlich des „Überspringens“ ganzer historischer Epochen ermöglichte.
Auf den Weg zu einer gebildeten Gesellschaft
Nicht zu unterschätzen ist weiterhin die Tatsache, dass aus einem Land, dessen Einwohnerschaft zum Zeitpunkt der Revolution mehrheitlich aus Analphabeten bestand, in einem historisch kurzen Zeitraum eine der gebildetsten Nationen weltweit wurde. Dieser Befund bezieht sich vollumfänglich nicht nur auf die allgemeinbildend – wissenschaftliche, sondern in besonderem Maße auch auf die kulturell-ästhetische Bildung und Erziehung. Bis heute beeindruckt bei Begegnungen mit auch „einfachen“ ehemaligen Sowjetbürger/innen und deren Nachkommen deren Kompetenz in Kunst und Literatur.
Technische Spitzenleistungen
Das flächendeckend gut ausgebaute und leistungsfähige Allgemeinbildungssystem war seinerseits Basis für eine Hochschul- und Wissenschaftsstruktur, die viele sichtbare (Weltraumforschung!) und weniger sichtbare wissenschaftlich – technische Spitzenleistungen im internationalen Maßstab hervorbrachte, von denen Rußland und andere Nachfolgestaaten der UdSSR noch heute zehren.
Soziale Gerechtigung
Weiterhin hat die Sowjetunion in der Endphase ihrer Entwicklung (bis zur "Perestroika", die mit einiger Berechtigung eher als erste Phase ihres Untergangs bezeichnet werden könnte) ihren Bürgern auch einen bescheidenen Wohlstand in Verbindung mit einem relativ hohen Grad an sozialer Gerechtigkeit gebracht. Eine solche Einschätzung ist regelmäßig von vielen ehemaligen Sowjetbürger/innen – jenseits aktueller weltanschaulich-politischer Orientierungen - zu hören, auch von solchen, die es in der Zeit der neoliberalen Renaissance durchaus in verantwortliche Positionen in Staat und Wirtschaft geschafft und zu bemerkenswertem Wohlstand gebracht haben.
Der militärischer Sieg über die faschistischen Staaten Europas.
Bekanntlich trug die Sowjetunion die absolute Hauptlast im 2. Weltkrieg gegen das faschistische Deutschland und seine europäischen Verbündeten. Dieser Sieg war allerdings sehr teuer erkauft und nur unter unvorstellbaren Opfern sowie Anstrengungen der sowjetischen Völker zu erreichen. Offensichtlich aber war die hohe Kampfmoral der sowjetischen Truppen, wesentlich von der Verbundenheit der Soldaten mit ihrer sowjetischen Heimat getragen, einer wesentlichen Komponente der letztendlichen Überlegenheit der Roten Armee.
In diesem Zusammenhang kommt man bei sachlicher Betrachtung auch nicht an der These vorbei, dass ohne die vielkritisierte, z. T mit Brachialgewalt und unter größten Anstrengungen durchgeführte Industrialisierung (in einem historisch extrem kurzen Zeitraum und bei äußerst schwierigen äußeren und inneren Rahmenbedingungen) des vormals rückständigen Agrarlandes dieser militärische Sieg nicht möglich gewesen wäre.
Niemand vermag heute zu sagen, wie das Nachkriegseuropa ohne den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion innerhalb der Antihitlerkoalition zu deren Sieg ausgesehen hätte.
Die Herausbildung eines realsozialistischen Weltsystems.
Das im Ergebnis des Sieges der UdSSR im zweiten Weltkrieg entstandene sozialistische Weltsystem mit einer politisch, militärisch und wirtschaftlich erstarkten Sowjetunion an der Spitze als ein auf vielen Gebieten (vor allem dem militärischen) gleichwertiger Gegenspieler der imperialistischen Hemisphäre bewirkte tiefgreifende Veränderungen im politischen Gesamtgefüge der Welt – erinnert sei nur an den Zusammenbruch des Kolonialsystems und den Übertritt einzelner Staaten der Peripherie des kapitalistischen Systems in Richtung des sozialistischen Lagers.
Restauration des Kapitalismus
Immerhin wurde die Gefahr der Erosion des Einflußbereiches der westlichen Führungsmacht USA von deren politischer Führung als so real und so ernst eingeschätzt, dass man immer neue Strategien ("Roll Back", "Containment", "Globalstrategie", …) entwickelte und umzusetzen versuchte, um dieser Tendenz mit aller Macht entgegenzuwirken.
Was bleibt aber heute von den realen Ergebnissen der Oktoberrevolution, nachdem die Sowjetunion zerfallen ist und in deren Nachfolgestaaten sowie in den europäischen sozialistischen Staaten mit regelrecht urwüchsiger Gewalt eine umfassende Restauration des Kapitalismus in seiner neoliberalen Variante stattgefunden hat?
Auch nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gemeinschaft sind Ergebnisse deren Wirkens im jahrzehntelangen Systemwettbewerb und damit mittelbar der russischen Oktoberrevolution manifest:
China der Vorzeige Sozialismus?
Man denke vor allem an die Etablierung des Sozialismus in Asien mit China an der Spitze. So sehr es auch – selbst unter Linken - umstritten ist, ob der von China eingeschlagene Entwicklungsweg tatsächlich als ein sozialistischer bezeichnet werden kann (Stichwort Demokratiedefizite) – eine progressiv konnotierte Alternative zum neoliberalen System ist es nach Überzeugung des Autors allemal (Mehrheit der Unternehmen der maßgebenden Wirtschaftszweige in Staatseigentum; eine Partei mit insgesamt progressiven Zielstellungen an der Spitze des Landes; Durchführung einer konsequent auf Frieden und Ausgleich orientierten Außenpolitik; Ermöglichen eines bescheidenen materiellen Wohlstandes für alle, umfassende Sozialpolitik, Strukturpolitik, die diesen Namen auch verdient, verstärkte ökologische Orientierung in Wirtschaft und Gesellschaft u. v. m.).
Es sei nur daran erinnert, dass auch von bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern anerkannt wird, dass es China gelungen ist, seit Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hunderte Millionen von Menschen aus der Armut zu holen! Allein dies ist ein historisch einmaliger Vorgang, der nicht hoch genug bewertet werden kann. Des Weiteren sind – auch durch die Beispielwirkung der ehemals realsozialistischen Länder sowie den Zusammenbruch des Kolonialsystems - die Voraussetzungen für eigenständige, emanzipatorische Entwicklungen in vielen Teilen der Welt spürbar verbessert worden.
Soziale Standards würde es ohne Oktoberrevolution nicht geben
Schließlich wirkt auch in Europa die Oktoberrevolution zumindest indirekt real nach: Die Implementierung mehr oder weniger stark ausgeprägter sozialstaatlicher Komponenten in das Ordnungssystem vor allem der westeuropäischen kapitalistischen Länder ("Soziale Marktwirtschaft", "Wohlfahrtsstaat" u. a. Bezeichnungen) war ja nicht zum Geringsten Ergebnis des Systemwettbewerbs. Das wird unter anderem daran deutlich, dass diese Sozialsysteme nach Wegfall der genannten Gegebenheiten sukzessive zurückgebaut wurden und werden (Beispiele: Hartz IV in Deutschland, aktuelle „Reformen“ Macrons in Frankreich u. a.). bzw. nicht oder nur in rudimentärer Form installiert wurden (viele osteuropäische Länder).
Lebensumstände - heute besser oder schlechter?
In jedem Falle lohnt es, über die Ursachen der Fehlentwicklungen, aber auch die erreichten Fortschritte für die Menschen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern Europas weiter nachzudenken. Es ist eben eine Tatsache, dass auch fast 30 Jahre nach dem Ende des Realsozialismus die Lebensumstände der Mehrheit der Menschen in einem Großteil dieser Länder heute schwieriger (um es sehr moderat auszudrücken) sind, als zu realsozialistischen Zeiten.
Am Ende kann aus der fundierten Analyse der welthistorischen Niederlage des mit der Oktoberrevolution begonnenen Sozialismusversuchs sogar Optimismus geschöpft werden: Trotz vieler offensichtlicher Defizite und Fehlentwicklungen hat der Realsozialismus das imperialistische System in eine sehr schwierige Lage gebracht, er hat es in weiten Teilen in eine Legitimationskrise gestürzt, er wurde von vielen Millionen von Menschen bewußt mitgetragen und mit Begeisterung vertreten, er verhieß weltweit ganzen Völkern sowie progressiven Bewegungen und deren Anhängerschaft eine bessere, eine erstrebenswerte Zukunft.
Der Kapitalimus hat Angst vor sozialistischen Gedanken
Schließlich wird auch an der Hysterie, mit der z. B. in Deutschland die „Aufarbeitung“ der Geschichte der DDR betrieben wird (Analogien finden sich z. B. in Polen, den baltischen Ländern und der Ukraine) offensichtlich deutlich, wie die „Sieger der Geschichte“ selbst nach Jahrzehnten seit dem Scheitern des europäischen Sozialismusversuchs immer noch die vielfach positiv besetzten Erinnerungen der Erlebnisgeneration fürchten.
Es bleibt das Fazit, dass die Oktoberrevolution und die nachfolgende widersprüchliche, aber eben doch alternativ zum Kapitalismus verlaufene Geschichte mit vielen emanzipatorischen Zügen auf einem Drittel der Erde – neben einer Reihe realer Ergebnisse - uns Linken einen nahezu unerschöpflichen, wertvollen Fundus an positiven und negativen praktischen Erfahrungen, aber auch ein sozialwissenschaftliches Theoriegebäude mit z. T. das Hinterfragen lohnenden Forschungsergebnissen hinterlassen hat.
Das Jubiläum der Oktoberrevolution sollte uns für eine intensivierte kritische Auseinandersetzung mit diesem Erbe, aber auch für einen vorwärtsgerichteten, konstruktiven Diskurs Anlaß sein!
Kategorien: DIE LINKE. Görlitz
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